Der Blick Jesu

Tag für Tag werden wir mit einer Flut von Bildern konfrontiert, aber wir müssen richtiges Sehen erst wieder lernen. Dazu ist zu allererst nötig, dass wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, Nöte erkennen und bereit sind den Blick nicht abzuwenden. Wo wir nicht helfen können, sollten wir zumindest Zeit für einen verstehenden, liebenden und mitfühlenden Blick haben. Üben wir diesen Blick, indem wir ein Foto auf unserem Handy oder in unserer Wohnung einmal länger betrachten. Welche Geschichte zeigt es?

Vom ersten Foto und richtig guten Bildern

Das vermutlich erste Foto der Welt stammt aus dem Jahr 1826. Natürlich ist es schwarzweiß aufgenommen, ziemlich unscharf und vom Bild her echt langweilig. In den letzten knapp zweihundert Jahren ist in puncto Fotografie viel passiert. Heute muss man kein Erfinder sein, um den Fotoapparat selber zu bauen. Man braucht auch Belichtung und Schärfe nicht mehr von Hand regeln, das machen moderne Kameras ganz alleine. Eines hat sich aber nicht geändert, man braucht einen Blick für das Bild. Ohne gutes Motiv ist selbst ein technisch perfektes Foto langweilig, nichtssagend und damit überflüssig. 

Ein gelungenes Bild zeigt jedem Betrachter sofort, um was es geht. Menschen, die den Dingen gerne auf den Grund gehen und viel reflektieren, können über die erste Ebene hinaus noch weitere Aussagen entdecken. Es liegt also durchaus auch im Auge des Betrachters, was in einem Bild alles gesehen werden kann.

Sehen können wie Jesus

Selbst in einer der berühmtesten Geschichten der Bibel, der Erzählung von der Brotvermehrung, fängt alles mit dem Sehen an. Jesus ist unterwegs und eigentlich möchte er seine Ruhe haben, aber als er „die vielen Menschen sah“, die ihm folgten und nichts zu essen hatten, bekam er Mitleid, so berichtet die Bibel. „Jesus sah sie …“ – Toller Satz, was ist daran denn besonders? Ich sehe auch Menschen. Ich bin ja nicht blind. Stimmt natürlich, aber: Sehen ist noch lange nicht sehen. Jesus hat nicht nur die Masse an Menschen gesehen. Er hat auch nicht nur sein eigenes Interesse gesehen, endlich einmal etwas Zeit für sich zu haben. Trotz allem, was ihn selber gerade beschäftigt haben mag, hatte er noch einen offenen Blick für die Menschen. Dabei sah er nicht nur das Augenscheinliche, sondern auch das, was dem ersten Blick verborgen war.

Echtes Sehen führt in die Tiefe

Vielen Menschen fehlt dieser offene Blick. Häufiger als es gut ist, endet unser Sehen da, wo die Augen enden. Echtes Sehen aber führt Bilder in das Innere. Das Gesehene geht zu Herzen, beeinflusst Denken und Handeln. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, heißt es im Märchen „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Das heißt: Ein Sehen, das das Gesehene nicht zum inneren Bild macht, hat den Namen Sehen kaum verdient.

Das Sehen Jesu hat eine andere Qualität. Ihn berührte, was er sah. So entstand eine Beziehung zwischen ihm und den Menschen. Über die Augen haben die Menschen sein Herz berührt. Das was er sah, setzte ihn in Bewegung, wurde zu konkreter Hilfe.

Es muss nicht immer so weit gehen. Oft ist es schon wohltuend, wenn man spürt: Da ist jemand, der nimmt wahr, wie es mir geht. Der freut sich oder leidet mit mir.

Die Augen nicht verschließen

Wie oft erleben Menschen genau das Gegenteil. Andere machen die Augen zu. Sie wollen nicht hinschauen, wollen sich schützen vor den Emotionen, die das Gesehene auslösen könnte. Darum sagen viele: „Ich kann das nicht mit ansehen“. Sie schauen weg, schließen die Augen und verweigern sich.

Mutig wahrnehmen, angemessen reagieren

Mutiger und besser wäre es, wenigstens hinzusehen – selbst wenn man nichts tun kann und machtlos ist, etwa bei einer schweren Krankheit. Viele halten das kaum aus. Das Wissen, nicht helfen zu können, machtlos zu sein angesichts von Not und Leid ist erschütternd. Wie einfach wäre es doch, nicht hinsehen zu müssen. Den Krankenbesuch kann man aufschieben, das Beileid schriftlich ausrichten, die Konfrontation mit dem Leidenden vermeiden. Aber gerade die Begegnung mit dem Menschen in Not ist unter Umständen wichtig. Manchmal ist wahrgenommen zu werden, Mitgefühl zu erfahren schon hilfreich. Jemand sieht mich an in meiner Not, meiner Krankheit, meiner Trauer. Da ist einer, der schaut nicht weg, der öffnet sein Herz. Mehr braucht es oft gar nicht.

Wieder neu sehen lernen

Wer das Tiefere sehen will, muss mit offenen Augen durch die Welt gehen. Nur so sind die Nöte zu erkennen, die unsere Welt und unsere Mitmenschen belasten. Das braucht Mut.

Arsch-Hoch-Challenge des Tages

Übe den offenen Blick: Nimm dir ein Foto, das in einer deiner Fotokisten schlummert oder ein Bild auf dem Smartphone. Schau es dir genau an. Was siehst du im Vordergrund, was siehst du im Hintergrund. Was ist die Geschichte, die hinter dem Bild steckt?

Raus aus den Federn, rein in die Challenge – ist ja schließlich Fastenzeit.

Autor: P. Christoph Heinemann OMI
Sprecher: Marc Zecchin

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